„Wären mehr Informationen die Lösung – wir wären alle Milliardäre mit Sixpack.“ (Derek Sivers)
Wir leben in einer unglaublichen Zeit. Das World Wide Web erlaubt es, auf das gesamte Wissen der Welt zuzugreifen. Jederzeit und von jedem Ort aus können wir mit unseren Laptops, Smartphones oder Tablets alles in Erfahrung bringen, was uns gerade interessiert. Die einzige Voraussetzung ist ein Internetzugang. Und den gibt es dank LTE-Technologie fast überall – egal ob im Stadtpark, auf der Autobahnraststätte oder am Ostseestrand.
Wer etwas Bestimmtes lernen
will, dem bieten sich dadurch unglaubliche Möglichkeiten. Jeder kann
nach Belieben das
Format wählen, was ihm im jeweiligen Moment gerade passend
erscheint: Online-Kurs, E-Book, Webinar, Newsletter-Challenge,
Live-Stream, Blogs, Apps, etc.
Aber warum kann und weiß nicht jeder alles, was er gern können und wissen möchte?
Als ich mit Gitarre spielen anfing, war es nicht leicht, an Informationen zu kommen. YouTube gab es noch nicht.[1] Und selbst wenn: Wir hatten damals kein Internet zu Hause. Meine Mutter konnte ich auch nicht von einem ISDN-Anschluss bei der Telekom überzeugen. Sie wüsste nicht, was das ist und wir hätten eh kein Geld für sowas. Das galt auch später, als alle meine Freunde sich nur noch über ICQ verabredeten und „gemeinsam spielen“ hieß, sich auf einem Server zu treffen, um Counter Strike oder Unreal Tournament zu zocken.
Mein Gitarrenlehrer in der Schule, Herr Markus, hatte mir eine Kopie seiner eigenen, handschriftlich angefertigten Übersicht „aller“ Akkorde gemacht. Da waren sogar Septakkorde mit drauf! Das war eine Zeit lang alles, was ich übers Gitarre spielen besaß und ich übte deshalb jeden Tag die Akkorde auf dem Blatt.
Irgendwann entdeckte ich, dass es Gitarrenzeitungen gibt und kaufte mir hin und wieder eine, wenn ich das Geld dazu besaß. Ich las jeden Artikel, jedes Interview und jede Produktbesprechung genauestens durch. Ich hatte damals zwar keine Ahnung, was ein Volume-Poti war oder was es bedeuten soll, mit Pro-Tools aufzunehmen, aber ich war mir sicher, wenn ich einfach immer weiter lesen würde, würde sich mir das alles irgendwann erschließen.
Das erste Gitarrenbuch bestellte ich in einem Buchladen. Ich hatte es bei den „Neuerscheinungen“ im „Gitarre und Bass Magazin“ gesehen. Ich bekam einen Zettel und musste ein paar Tage warten, bis es da war. Als ich es abholte, fühlte es sich an, als ob ich etwas Heiliges in den Händen hielt. Leider stellte sich schnell heraus, dass der Kauf ein Schuss in den Ofen war. Alles in dem Buch war weit über meinem damaligen Level. Ich konnte so gut wie nichts damit anfangen.
Das Problem beim Lernen sind nicht die Informationen! Sonst hätte kein Schüler auf der Welt schlechte Noten in Mathe. Jeder Schüler besitzt ja schließlich ein Mathematikbuch, in dem alle nötigen Informationen stehen. ;-)
Bei meinen Schülern sehe ich ganz andere Probleme, die sie davon abhalten, ihr volles Potential auszuschöpfen. Regelmäßiges Üben – z.B. wirklich jeden Tag für 10 Minuten ein kleines bisschen was zu machen – schaffen die wenigsten. Ich führe oft (und gerne) Diskussionen zum Thema Zeitmanagement, aber ums kurz zu machen: Wer alle Folgen von Game Of Thrones gesehen hat oder alle Staffeln von Breaking Bad mehrmals gesehen hat, braucht mir nicht mit „keine Zeit!“ zu kommen.
Ein weiterer Faktor ist die eigene Psyche. Viele trauen sich gar nicht zu, Gitarre spielen zu können. Sie reden sich ein, sie wären zu alt oder zu doof oder zu festgefahren. Sie beschimpfen sich selbst beim Üben oder werden wütend, wenn etwas nicht klappt. Sie würden gerne mehr können, aber das Instrument zu üben wird für sie immer mehr zu einer negativen Erfahrung, die sie irgendwann – bewusst oder unbewusst – zu vermeiden versuchen. Eine sich selbsterfüllende Prophezeiung wird wahr: Ich kann das nicht, deshalb macht Üben keinen Spaß, und der Beweis dafür ist, dass ich es nicht kann.
Ein weiterer wichtiger Faktor
ist das Lernen selbst. Wie lernt man eigentlich richtig und effektiv?
Leider wissen das die wenigsten. Um eine Vorstellung davon zu
bekommen, wie komplex das Thema ist, kann man es gut mit sportlichem
Training vergleichen.
Was ist effektiver: 30 Liegestütze
am Stück, 2x15 Liegestütze mit kurzer Pause zwischen den Sets oder
10 Liegestütze jede Stunde? Sollte man die Liegestütze schnell oder
langsam machen? Beine breit auseinander oder gerade nach hinten
gestreckt? Die Arme nah am Körper oder weiter weg? Kopf über,
hinter oder vor den Händen? Ist das alles überhaupt wichtig und
macht das überhaupt einen Unterschied? (Kleiner Tipp: Ja, und wie!)
Auch in der Schule kommt
dieses Thema „Wie man lernt“ normalerweise nicht vor. Da heißt
es einfach „Lern das Gedicht auswendig.“ WIE das geht,
sagen sie einem aber nicht. Und wenn es dann doch Fächer wie „Lernen
lernen“ gibt, beschränkt sich der Unterricht meist auf wenig
hilfreiche Tipps wie „Kenne deinen Lerntyp – du bist der visuelle
Lerntyp!“
Oder dass es besser ist, über mehrere Tage verteilt
zu lernen, als einen Tag vor der Prüfung. Letzteres stimmt sogar,
aber es verrät einem immer noch nicht, WIE Informationen am
leichtesten vom Hefter ins Gehirn kommen und dort auch bleiben
wollen. An diesem Punkt setzten viele meiner Unterrichtsstunden an.
Zurück zum Thema, warum es nicht so einfach ist, sich selbst allein mit YouTube das Gitarre spielen beizubringen. Diese kleine Auswahl an oben genannten Gründen (Disziplin, Mindset, Lernstrategie) ist nämlich längst nicht alles, was einen davon abhält, ein guter Gitarrist zu werden.
Wer über YouTube oder einen
Online-Kurs lernt, hat kein direktes Feedback. Eine schnelle
Rückmeldung, ob das, was man tut, überhaupt richtig ist, ist aber
einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Lernen. Niemand
würde Vokabeln mit Karteikarten pauken, wenn hinten nicht die Lösung
drauf stehen würde. Das wäre ja sinnlos, oder?
Man kann jetzt
einwenden, dass man auf der Gitarre hört, wenn man etwas richtig
macht. Und wenn es nicht so ist? Wie korrigierst du es? Wie findest
du die Lösung?
Wie entscheidest du, was du als nächstes lernst? Woher weißt du, was dir fehlt? Lässt du den YouTube-Algorithmus entscheiden, welches Thema du als nächstes lernst? Woher weißt du, dass dir nicht noch Grundlagen fehlen, um dieses Thema anzugehen? Wie entscheidest du, welches Thema für dich relevant ist? Wie kannst du deine blinden Flecken sehen?
Ich will aber nicht so tun, als wäre das Internet nur schlecht und als wäre es unmöglich, auf eigene Faust etwas zu lernen. Ich will ein Bewusstsein dafür wecken, dass zum Gitarre lernen mehr nötig ist, als zu wissen, welcher Finger in welchen Bund gelegt werden muss. Dass man, wenn etwas nicht klappt, nach den Ursachen dafür forschen muss und diese nicht immer mit einer WAS-Information zu tun haben. Das WIE ist von größerer Bedeutung, als sich die meisten vorstellen können.
Ein paar Tipps
Damit ihr den maximalen Nutzen aus den YouTube-Videos ziehen könnt, die ihr euch anschaut, habe ich hier ein paar Tipps zusammengestellt:
1.) Macht euch Notizen! Schreibt die Ideen & Konzepte aus dem Video auf. Schreibt Begriffe auf, die ihr nicht kennt. Notiert euch Hinweise zu Künstlern. Notiert alles, was euch wichtig erscheint. So habt ihr die Chance, euch später in Ruhe damit auseinander zu setzten.
2.) Spielt die Beispiele und Übungen nach! Wenn ihr es nicht sofort machen könnt, dann plant, wann ihr die Übung machen wollt. Nur Zuschauen bringt so gut wie gar nichts. Setzt ein Lesezeichen für das Video und schreibt euch die Minuten/Sekunden mit der Stelle auf, an der die Übung kommt.
3.) Stellt Fragen in den Kommentaren zu den Dingen, die euch unklar sind! Die meisten YouTuber antworten auf eure Fragen. Ein Youtube-Video ist kommunikationstechnisch keine Einbahnstraße. Nutzt die Chance, eurer Wissen mit dem Creator selbst oder durch Kommentare der Community zu erweitern.
4.) Schaut
euch mehrere Videos zum selben Thema an! Wiederholung ist die
Mutter des Studierens, heißt es – weil es stimmt. Außerdem
erklärt jeder Musiker die selbe Sache etwas anders. Zieht euch nicht
ständig neue Videos zu neuen Themen rein, sondern taucht tief ein.
Ein guter Punkt, ein neues Thema zu suchen, ist, wenn man bei
mehreren Videos alles verstanden hat und es keine neuen Informationen
mehr zu entdecken gibt.
5.)
Nutzt YouTube als Bibliothek! Nutzt die Suchfunktion zur
konkreten Recherche von Themen, mit denen ihr euch gerade beschäftigt und
lasst euch nicht einfach vom Algorithmus bespaßen. YouTube ist
designt, um ein Maximum eurer Aufmerksamkeit zu erhaschen. Der
Algorithmus versucht, euch nicht das zu zeigen, was ihr braucht,
sondern das, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ihr möglichst
viel Zeit damit verbringt, Videos zu schauen statt Gitarre zu üben.
"Wo ist das Wissen, dass wir in der Information verloren haben?" (T.S. Eliot)
Nie konnte der Mensch leichter auf eine scheinbar unendliche Fülle an Informationen und Wissen zugreifen. Wir könnten uns eigentlich glücklich schätzen, in einer solchen Zeit zu leben. Gleichzeitig sind aber auch die Möglichkeiten zur Ablenkung ins unermessliche gestiegen – die gewollten genauso wie die ungewollten.
Wenn ihr etwas lernen wollt, mach euch nicht nur Gedanken darüber, WIE ihr an die Informationen kommt. Ein Online-Kurs ist schnell gebucht, das nächste YouTube-Video ist noch schneller angeklickt. Macht euch Gedanken darüber, wann und wie ihr Zeit für euer Vorhaben frei machen könnt. Erstellt einen Plan. Baut Disziplin auf. Sucht euch Hilfe, wenn ihr nicht weiter kommt. Geht nicht zuerst davon aus, dass ihr unfähig seid, sondern dass eure Methoden und Herangehensweisen verbesserungsfähig sind – mehr als ihr euch vielleicht im Moment vorstellen könnt. Und das Wichtigste: Gebt nicht auf!
Ich wünsche allen viel Erfolg beim Selbststudium! :-)
PS: Die Frage „Kann man mit YouTube-Videos lernen?“ stellte mir Vitali Petrovic. Meine Antwort könnt ihr auf YouTube im Video „Talk: Lebensweg, Gitarre Üben & Musik als Beruf“ nachhören. Weil mir das Thema immer noch im Kopf herumschwirrte, habe ich diesen Blog geschrieben, um meine Antwort noch weiter auszuführen.
[1] Das erste YouTube-Video wurde am 23. April 2005 mit dem Titel „Me at the zoo“ gepostet (https://youtu.be/jNQXAC9IVRw). 2006 habe ich meine Schulausbildung beendet.
"Wir sind die informierteste und gleichzeitig ahnungsloseste Gesellschaft, die je existiert hat." (Peter Turrini)
Kommentare
Kommentar veröffentlichen