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Wie Akkordstudie schreiben? Kreativ sein mit Hotel California

Warum lohnt es sich, selbst eine Akkordstudie zu schreiben?


Probieren geht über Studieren. Das Prinzip ist dabei denkbar simpel: Anstatt abstrakte musiktheoretische Grundsätze zu pauken und die Musik anderer Leute auswendig zu lernen, soll der Schüler sich selbst versuchen. Dabei muss er vorhandenes Wissen aktiv abfragen und stellt sich im besten Fall selbst ein paar interessante Fragen zum Thema. Man könnte dieses Fragen jetzt auch Wissenslücken nennen - das mache ich aber eher ungern, denn das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass der Schüler jetzt selbständig oder in Zusammenarbeit mit einem Lehrer die Antworten auf diese Fragen finden soll. Die Lernforschung nennt das Ganze dann Exploratives Lernen. Beim aktiven Erforschen und durch eigenes Entdecken, durch gefundene Probleme und ausprobieren möglicher Lösungen soll die Neugier geweckt, der Geist geöffnet und das Lernen um ein vielfaches erleichtern. Gehirn gerechtes Lernen nannte das Vera F. Birkenbihl[1]. Und das beste daran: Es macht Spaß!

Hilfe: Ich bin gar nicht kreativ!

Ich will jetzt keine langatmige Diskussion zum Thema Kreativität anfangen. Soviel sei aber gesagt: Jeder Mensch, der schon mal überlegt hat, ob noch Pfeffer ans Essen sollte oder darüber nachgedacht hat, in welchem Fensterbrett der von Oma geschenkte Kaktus besser aussehen würde, bringt die nötigen Grundvoraussetzungen zur kreativen Entscheidungsfindung mit. Der Rest ist eine Frage der verfügbaren Optionen (aka vorhandenes Wissen) und des persönlichen Geschmacks.

Wie gehe ich vor?

Hier nun eine grobe Anleitung, wie man sich an eine eigene Akkordstudie heranwagen KÖNNTE. Es ist lediglich ein Vorschlag Es gibt - je nach Wissensstand und persönlicher Neigung - eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich kreativ auszulassen.

Ich will dir aber etwas „handfestes“ mit auf den Weg geben. Etwas, woran du dich orientieren kannst, wenn du deine ersten eigenen Versuch unternimmst. Außerdem ist mein Ziel, dass du anfangen kannst kreativ zu arbeiten, ohne dass du besonders viel theoretisches Vorwissen mitbringen musst.

Schritt 1 - Akkordfolge wählen

Such dir eine beliebige Akkordfolge. Du kannst dir selbst eine ausdenken, aber für den Anfang empfehle ich, einfach ein Stück zu nehmen, dass du bereits kennst. Kreativität braucht Grenzen. Wenn alles möglich ist, weiß man meist nicht, wo man anfangen soll.

Als Faustregel gilt, je weniger Akkorde, umso leichter wird es erstmal. Eine Akkordfolge mit drei bis vier Akkorden ist ein guter Start.

Da ich mit meinem Schüler Jörg im Unterricht zuletzt HOTEL CALIFORNIA behandelt habe, zeige ich dir hier anhand der Strophen-Akkorde meine Vorgehensweise. Mit den 7 Akkorden haben wir gleich etwas mehr Anschauungsmaterial.

| Bm | F# | A | E | G |D |Em | F# |

Schritt 2 - Neue Akkorde finden

Wichtige Anmerkung: Wenn wir jetzt anfangen, die Akkorde zu verändern, dann kann es passieren, dass der Song nicht mehr nach dem Song klingt. Das ist ok! Wir üben hier, wir testen unsere Möglichkeiten aus. Ziel ist es nicht, eine verbesserte Version des Originals vorzulegen, sondern etwas zu lernen. Das ist kein Workshop in Reharmonisation!

Aber wie komme ich jetzt zu anderen Akkorden? Woher weiß ich, welchen Akkord ich wie mit zusätzlichen Tönen garnieren kann? Mir fallen spontan 4 Möglichkeiten ein:

1. - Das eigene Wissen anzapfen: Welche Akkorde sind so ähnlich wie Bm? Vielleicht hast du ja schon ein paar Alternativen parat. Die meisten Gitarristen kennen sus4 Akkorde, vielleicht hast du auch schon mal einen m7 gespielt. Schreib dir alle Möglichkeiten auf, damit du später entscheiden kannst, welche Sound dir am besten gefällt.

2. - Akkordbuch befragen: Fast alle Gitarristen haben sich irgendwann mal eine Grifftabelle gekauft - und sie dann nach 2 Wochen nie wieder angefasst. Seitdem verstaubt das Ding im Bücherregal. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es herauszuholen und dich an den Akkorden mit den "komischen" Namen zu versuchen. Die meisten Akkordbücher listen die Grundakkorde auf und zeigen dann immer „komplizierter“ klingende (und zu greifende) Varianten und Erweiterungen an. Probier dich durch und notier die, die sich schön anhören (und die sich mit etwas Übung greifen lassen).

3. - Musiktheorie anwenden: Wer sich immer gefragt hat, warum er im Unterricht die Stufenakkorde von Dur lernen musste, die Bildung von Sext- und Septakkorden oder Akkordsynonyme - jetzt ist dieses Wissen gefragt! Kramt den alten Hefter aus dem Musikunterricht hervor und schaut euch nochmal kurz an, warum welche Tonart welche Akkorde hat und wendet es auf euer Stück an. Ihr wisst nicht, zu welcher Tonart eure Akkorde gehören? Fantastisch! Ihr habt eine wunderbare Wissenslücke aufgetan. Die ihr nun schließen könnt. Allein, mit Freunden, oder mit einem Lehrer. Und Lernen war ja das eigentliche Ziel der Übung. ;-)

4. - Rumprobieren: Ja, rumprobieren. Ich möchte an dieser Stelle unbedingt den wunderbaren Abi von Reininghaus aus seinem empfehlenswerten Buch IN VIVO GUITAR zitieren: „Der Prozess des Suchens - Probierens - Tüftelns hat Tradition auf der Gitarre und ist vielleicht sogar einer der Gründe ihres phänomenalen Erfolgs.“[2]
Die coolsten Akkorde und Akkordverbindungen der Rockgeschichte sind mit Sicherheit nicht entstanden, weil jemand Jazz-Theorie gepaukt hat. Gitarristen „verschieben“ ihre Finger und schauen was passiert. Ganz ohne Theorie. Tue es!

Egal, wie du vorgehst, halte deine Ergebnisse (und Ergüsse) irgendwie fest. Vor allem, wenn du etwas findest, was dir gefällt, was gut klingt. Es ist dabei egal, ob du auf einen Notizzettel kritzelst oder alles fein säuberlich in ein Notensatzprogramm eingibst. Aber verlass dich nicht auf deine Erinnerung. Ich halte es da wie Produktivitätsguru Tim Ferriss: „Ich vertraue dem schwächsten Stift mehr als dem stärksten Gedächtnis.“[3]

Im folgenden habe ich dir einmal meine Akkordübersicht aufgeschrieben. Es ist keine zwingende Voraussetzung, aber ich habe mir die Akkorde ein bisschen sortiert, jede Spalte enthält einen Typus. Zuerst die „normalen“ Dur und Moll Akkorde, dann die Septakkorde, sus-Akkorde, - und am Ende kommen die mit den „komischen“ Namen.[4] ;-)

eine Grifftabelle mit Akkordvarianten
Schritt 3 - Akkorde auswählen

Nachdem das meiste, was man „Arbeit“ nennen könnte, in Schritt 2 erledigt worden ist, kommen wir nun zum vielleicht schönsten Teil der Übung: Wir suchen uns interessante Akkorde zusammen. Theoretisch kannst du frei Schnauze beliebige Akkorde miteinander kombinieren. In der Praxis wird dir auffallen, dass nicht alle Kombinationen gut klingen.

Wenn du dich für das Warum (und die Theorie) dahinter interessiert, kannst das Stichwort „Stimmführung“ googeln. Genauso gut geht aber auch erstmal: Ohren benutzen! Du wirst schnell von selbst einige Entdeckungen machen: Akkorde mit ähnlichen Namen passen oft ganz gut zueinander, an manchen Stellen passen „verrückte“ Sounds eher als an anderen. Nochmal: Das Herumprobieren ist nichts Verwerfliches, keine Schwäche, sondern es ist der kreative Prozess selbst und nebenbei ein hervorragender Lehrmeister. Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin beileibe kein Gegner der Musiktheorie, sondern ich plädiere dafür, dass beides - das Ausprobieren und das Analytische - zwei Grundsäulen des Lernens sind, die sich gegenseitig beflügeln können (sollen!).

Schritt 4 - Überarbeiten

Bis jetzt haben wir so etwas wie ein freieres „Malen nach Zahlen“ betrieben. Wir haben nach Vorlage Akkorde aneinander gereiht. Das lateinische Wort componere steht übrigens für „zusammenstellen, -setzen, -fügen“. Unserer Komposition (aka Zusammenstellung) fehlt jetzt noch der Feinschliff.

Zu den unendlich vielen Dingen, die ich von meinem Gitarrenlehrer Christian Röver[5] gelernt habe, gehört auch Folgendes: Liegen lassen, morgen nochmal anhören. All jenes, was man sich am Vortag nach langem Werkeln „zurechgehört“ hat, empfindet man heute vielleicht schon als unschön. Alle „Kopfgeburten“, deren brillante Theorie gestern absolut einleuchtend daherkamen, klingen heute fad oder schlicht falsch. Trotz toller Erklärung.

Jede Stelle, die einem nicht (mehr) gefällt, muss nun geändert werden. Ob man da so lange probiert, bis es passt, oder eine systematische-musiktheoretische Fehlersuche betreibt, ist jedem selbst überlassen. Wichtig ist: Das Ohr entscheidet. Manchmal muss nur eine einzelne Note an den richtigen Platz gerückt werden, damit es klingt. Manchmal müssen komplette Passagen erneuert werden. Und manchmal findet man für eine Stelle gar keine Lösung, die einen zu 100% zufriedenstellt. Auch damit muss man leben können, wenn man Schritt 5 erreichen möchte.

Schritt 5 - Arbeit beenden = die Musik üben & spielen

Die Überarbeitung macht den Profi aus, keine Frage. Man sollte einen gesunden Ehrgeiz entwickeln und sich nicht mit dem erstbesten Ergebnis vorlieb nehmen. Aber irgendwann sollte man sich auch zufrieden geben und fertig werden. Ich will gar nicht wissen, wieviel unendlich tolle Musik in den Schubladen von Künstlern vermodert, denen ihr Perfektionismus im Weg stand. Aber das ist ein anderes Thema...

Wenn du beschlossen hast, die Arbeit an deine Akkordstudie (oder deinem Song, deinem Solo, deiner Komposition, etc...) zu beenden, muss du sie nun üben. Für mich ist ist es immer ein guter Abschluss, wenn ich mein neues Werk aufgenommen oder jemanden vorgespielt habe. Hier ist nun also meine endgültige Fassung
Akkordstudie Hotel California 
Schritt 6 - Beginne etwas Neues

Nach der Akkordstudie ist vor der Akkordstudie. Als unermüdlicher Lerner und enthusiastischer Gitarrenenthusiast willst du sicher nicht stehen bleiben und bist auch kein Freund von Langeweile. Deshalb kannst du jetzt wahlweise mit einem neuen Stück beginnen - oder eine neue Akkordstudie schreiben. Es gibt noch so viele Sounds zu entdecken und Klang-Möglichkeiten zu erforschen. So viel zu lernen! :-)

Hier siehst du nun meine zweite Version über die Akkordfolge von HOTEL CALIFORNIA.
Zweite Akkordstudie zu Hotel California
Du bist dran!

Ich freue mich sehr, dass du den Text bis hierher gelesen hast. Jetzt bist du dran. Schreibe deine eigene Akkordstudie. Geh auf Entdeckungsreise und sei kreativ.

Bis zum nächsten Mal, Sebastian

[1] Vera Birkenbihl (* 1946 -  2011), erfolgreiche freie Trainerin und unermüdliche Kritikerin am deutschen Bildungssystem. Sie entwickelte Lernstrategien und eine nach ihr benannte Methode zum Fremdsprachenerwerb.

[2] Und weiter: „Ich respektiere dieses dieses Suchen - Probieren - Tüfteln als einen Gitarristisch ernst zu nehmenden Prozess! Die Autodidaktik (Selbstunterricht) hat eine enorme Kraft, weil sie aus dem „Chaos“ ständig Neues entstehen lässt und oftmals auf Ideen kommt, die die orthodoxe, „klassische“ Denkweise achtlos liegen lässt.“

von Reininghaus, Abi: In Vivo Guitar. Gitarre erkennen, verstehen, spielen. Aktualisierte Auflage, Bonn 2006, Voggenreiter Verlag, Seite 132.
[3] „I trust the weakest pen more than the strongest memory, and note taking is - in my experience - one of the most important skills for converting excessive information into precise action and follow-up.“ Tim Ferris Blog Post - How To Take Notes Like An Alpha-Geek“ (https://tim.blog/2007/12/05/how-to-take-notes-like-an-alpha-geek-plus-my-2600-date-challenge/)
[4] Der letzte Akkord in der ersten Zeile, der Bmadd11/b13, ist kein gewöhnlicher Gitarren-Griff. Nach den Regeln der Musiktheorie „darf“ man keine kleine Sexte (= b13) zu einem Moll-Akkord spielen. Arpeggiert klingt das ganze aber doch ziemlich spannend. Gefunden habe ich dieses Voicing natürlich durch ausprobieren („Was passiert wohl, wenn ich ein paar Leersaiten einfügen?“).
[5] Nach Dozententätigkeit am Berklee College Of Music arbeitete Christian Röver als Professor für Jazzgitarre an der Universität Graz/Österreich und den Musikhochschlulen in Weimar und Leipzig. Webiste: http://www.christianrover.com/

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